Bild: Frankfurter Rundschau |
Das Haus des deutschen Bundespräsidenten im niedersächsischen Großburgwedel wurde in den vergangenen Tagen vielfach als »kleinbürgerlich« oder gar »spießig« kritisiert. Zu sehr gehört dieser Bautyp zum Inventar unserer Vorstädte, zu häufig haben wir ihn gesehen und können nun staunen, dass selbst der höchste Mann im Staat in einer scheinbar so durchschnittlichen Architektur lebt.
Wieso hat er sich keine Villa oder ein villenähnliches Haus gekauft? Der Preis war sicher nicht alleine ausschlaggebend. Was will er also mit der Auswahl dieses »kleinbürgerlichen« Haustyps sagen – bewusst oder unbewusst? Das private Haus des Bundespräsidenten ist eine Aussage, eine Stellungnahme, eine Positionierung, die man interpretieren kann.
Das Haus des Präsidenten lässt sich als ein kleines Landhaus bezeichnen – es folgt formalen Mustern des Bauens um 1800, mit Krüppelwalmdach, einer mittig gesetzten Dachgaube, einer einfachen Reihung quadratischer Fenster mit Sprossen und einer schlichten Tür. Es wurde in Klinkermauerwerk ausgeführt, eine im norddeutschen Raum übliche Bauweise. Eine Pergola mit Rankhilfe schützt die Terrasse.
Diese schlichte, auch bescheidene Architektur ist heute in vielen Varianten weit verbreitet. Der Erfolg der einfachen, in ihrer Größe reduzierten Landhäuser begann in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als Paul Schultze-Naumburg in seinen »Kulturarbeiten« die gute Architektur des Biedermeiers gegen die schlechte, protzige, unproportionale Architektur der Gründerzeit stellte. Für ihn waren die historistischen Villen Orte von Irrsinnigen, während in den Landhäusern von um 1800 Gesundheit, Ruhe und Kraft lag. Paul Mebes veröffentlichte einige Jahre später das Buch »Um 1800« und sorgte für eine weitere Popularisierung der einfachen, ländlichen Architektur.
Auf dem Tessiner Monte Veritá wagten um 1900 junge Leute, die dem Großbürgertum entstammten, ein Experiment. Sie hatten das Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in dem vor allem Geld und Wirtschaftswachstum die entscheidende Rolle spielten, in dem Reichtum und Erfolg mit immer aufwendigeren Gebäuden repräsentiert wurden, als zutiefst unwahrhaftig, als zutiefst unmoralisch angesehen. Dieser falschen Pracht, der keine Bedeutung mehr innewohnte, wollten sie ein wahrhaftige neue Architektur entgehen setzen. Sie errichteten auf dem selbst so titulierten Berg der Wahrheit ganz einfache Hütten mit Satteldächern und Knüppelholzveranden. Die Rückkehr zu den Anfängen, ein Leben in der Hütte, sollte Ausgangspunkt einer neuen Architektur werden. Aus der Hütte sollte eine Bauweise erwachsen, die wieder echt und wahrhaftig sei.
Ausgehen von diesem und anderen lebensreformerischen Experimenten entstanden bald in allen deutschen und nordeuropäischen Städten Bauten, die Landhaus- und Hüttenelemente integrierten. Die so genannte Reformarchitektur wollte gerade über eine Verknüpfung mit dem einfachen, ruralen Bauen die eigene Bedeutung absichern.
Dieses Architekturmodell, das Gauben, Erker, Ziegelbauweise, Rauhputz, Rankhilfen, Spaliere, Pergolen, Krüppelwalmdächer und mehr nutzte, um glaubwürdig zu werden, um ein Gegenbild gegen die gründerzeitliche Boomarchitekur zu etablieren, setzte sich vor allem in den Vorstädten und gerade im Wohnhausbau durch. Mit bis heute ungebrochenen Erfolg. Das Präsidentenhaus in Großburgwedel wäre in seinen Grundformen genauso in den Jahren 1910 oder 1930 denkbar gewesen.
Der Erfolg der ländlichen, das Einfache idealisierenden Architektur hatte einen einfachen Grund: das seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer präsente Leiden an der Moderne; das Gefühl der Menschen, dass in der modernen Industrie- und Finanzwelt die wahren Bedürfnisse der Menschen nicht berücksichtigt werden. Das Leiden an der Moderne war um 1900 aktuell und es ist im Jahr 2012 nicht weniger. Der Wunsch, an die Ursprünge anzuknüpfen, zumindest für das private Leben eine Hülle zu finden, die »wertvoller« und »wahrhaftiger« ist, die eine individuelle Flucht ermöglicht, ist ein Teil der Moderne, die immer präsente Kehrseite der Medaille von Industrialisierung und Wirtschaftswachstum.
Das Wohnhaus des deutschen Bundespräsidenten verkörpert idealtypisch den Rückzug aus der als wild und chaotisch verstandenen Moderne mit all ihren zynischen Erscheinungen. Es verkörpert die Rückbesinnung auf vorindustrielle Werte, eine wohl immer bleibende Sehnsucht des modernen Menschen.
Dass ausgerechnet der Bundespräsident eine derart moderne-skeptische Wohnform wählt, zeigt, wie sehr die Kritik an der Wirtschafts- und Finanzwelt Teil unserer Gesellschaft ist. Die Menschen arbeiten im System und wünschen sich doch ein anderes Leben. Selbst der deutsche Präsident.
NILS ASCHENBECK